Aus Cellulosenitrat bestehen nicht nur fotografische und kinematografische Filme. Wir warfen einen Blick über unsere Filmbestände hinaus und befragten hierzu einen Experten der Kunststoffgeschichte – Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Lattermann. Für das Netzwerk CN nahm er sich freundlicherweise Zeit und beantwortete Drei schnelle Fragen zu Objekten aus Cellulosenitrat.
1) Herr Lattermann, Sie besitzen selbst eine Sammlung von ca. 200 CN-Objekten, was fasziniert Sie an diesem Material?
CN ist ein frühes halbsynthetisches, polymeres Material mit Bio-Ausgangstoff (Cellulose). Es kann vielfältig eingefärbt und durch seine spezielle Herstellungstechnik unbegrenzt gemustert werden, wie kein anderes historisches polymeres Material (‚Hipom‘). Mögliche ‚Imitationen‘ spielen dabei nur eine ganz begrenzte Rolle. Im technischen Bereich hat es wichtige Funktionen als Lackrohstoff und hat den Durchbruch in neue Medienwelten (Kinofilm) ermöglicht.
2) Welche Arten von Objekten können aus CN bestehen und welches ist das skurrilste CN-Objekt, dass Ihnen bisher begegnet ist?
Eigentlich alles, was man sich überhaupt vorstellen kann, vom Haushaltsgegenstand (Schüssel, Dose) über Väschen, Brieföffner, reich verzierte Objekte der Damentoilette (Kämme, Spiegel, Haarklemmen, Nagelfeilen, Hutnadeln etc.), Modeschmuck, Zierkorken, Spazierstockgriffe, Rasiermessergriffe, Kragenknopfdöschen, Schuhlöffel, Hemdkragen, Brillengestelle, Brillenetuis, Zigarettendosen, Postkarten, Haussegen, Akkordeonbeschläge, Puppen, Füllfederhalter, bis zu Tischtennisbällen, Nitrolack (Zaponlack) und vieles, vieles andere mehr.
Die allermeisten Objekte sind alles andere als skurril. Aber wie überall gibt es auch das, z. B. einen drehbaren Handventilator.
Der Gebrauch des Handventilators wäre durch eine kunstsinnige Dame z. B. in einer Bayreuther Festspiel-Aufführung (im August, ohne Klimaanlage) nicht so geeignet. Er hätte doch zu sehr geklappert (Celluloid und Mechanik), was bestimmt den Musikgenuss der Dame, aber auch der Nachbarn gestört hätte.
3) Wie identifizieren Sie Objekte aus CN, bzw. wie gehen Sie vor?
a) Optische Eingrenzung: CN kann unbegrenzt farbig und gemustert sein, ist meist aus relativ flachen Schichten/Platten aufgebaut bzw. gepresst oder geblasen, nicht gegossen.
b) Zeitliche Eingrenzung, Stil: Celluloid selbst wird hergestellt ab 1868 und ist bis 1904 (Galalith) ohne Konkurrenz.
c) Bei sehr vorsichtigem, akkuratem, kurzzeitigem (ca. 1 Minute) Erwärmen auf bis zu höchstens 50 °C wird der Weichmacher Kampfer deutlich riechbar. Manchmal genügt sogar schon Reiben mit dem Daumen. Unsere Nase ist nach wie vor einer der empfindlichsten Sensoren (wenn wir Hunde abrichten würden, ginge das sicher noch besser).
Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Lattermann
Dipl. Chemiker, ehemals Makromolekulare Chemie I der Universität Bayreuth, Honorarprofessor der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin; Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kunststoffgeschichte dgkg und der Plastics History European Association PHEA. Autor zahlreicher polymerchemischer, polymerhistorischer Artikel, Buch- und Katalogbeiträge. Autor des Buches „Chemiepark – Anekdoten, Geschichte und Betrachtungen aus einem Chemiker-) Er-)Leben“, Springer Verlag GmbH, Berlin 2020.